IF WE DON'T, REMEMBER ME.

Du bist kein Experte

Und das macht dich zum besten Experten. Alles, was du brauchst, ist eine leere Tasse. (Und eventuell Kinder.)

IF WE DON'T, REMEMBER ME.

Vor einiger Zeit habe ich Vaibhav Dwivedi auf Twitter kennengelernt. Er liebt Psychologie und er liebt es, komplexe Zusammenhänge aus diesem Fachgebiet einfach zu erklären und alltagstauglich zu machen. Zweimal wöchentlich versendet er den Psyche-Newsletter. Jemals darüber nachgedacht, weshalb Popcorn mit Stäbchen zu essen dich glücklicher macht?

Siehst du, ich auch nicht.

Am Ende dieses Artikels auf Medium stellte Vaibhav eine Frage, die mich wieder daran erinnerte, weshalb „kein Experte zu sein“ eigentlich eine Superkraft ist. Und was meine Kinder damit zu tun haben. Da meine Antwort dort in den Kommentaren ein wenig untergegangen ist, möchte ich sie mit kleinen Ergänzungen noch einmal veröffentlichen.


Frage: Würdest du lieber jemanden dazu zwingen, etwas so zu benutzen, wie du es willst ODER dich darauf einstellen, wie er sich daran anpasst?

Antwort: Es hat einige Jahre gedauert, bis ich bemerkt habe, wie wichtig (und unterschätzt) die zweite Herangehensweise ist: Zulassen, wie sich jemand an etwas anpasst und es sich auf seine eigene Weise zunutze macht. Es bietet so viel mehr Erkenntnis.

Natürlich setzt es ein gewisses Maß an Empathie und Einsicht voraus, um von inneren Glaubensprinzipien loslassen zu können. Die sind manchmal sehr verborgen und tief sitzend. Aber wem sag ich das?

Erst gestern sah ich das Wired-Interview „James Dyson beantwortet Designfragen von Twitter“ auf YouTube. Ihm wurde unter anderem folgende Frage gestellt: „Was war ihre größte Herausforderung als Produktdesigner, um einen Mangel an Erfahrung zu überwinden?“

Seine Antwort war ziemlich schlau:

„Ich denke, ein Mangel an Erfahrung ist eine große Hilfe. Ein Experte denkt, dass er alles weiß, aber er ist durch seine Erfahrung und sein Wissen auch ziemlich gehemmt und es fällt ihm schwer, vom bekannten Weg abzuweichen. Wenn du hingegen keine Erfahrung hast, aber sehr neugierig bist und mit Naivität an deine neue Herausforderung herangehst, ist es für dich als unerfahrener Designer einfacher, etwas Neues zu entwickeln und einen anderen Weg einzuschlagen.“

Besonders im Zusammenhang mit Kindern und Erziehung finde ich das extrem spannend. Manchmal ist es sinnvoll, anderen Menschen in bestimmten Situationen ein Konzept aufzuzwingen. („Wir gehen nur bei Grün über die Straße.“ „Nein, vom Fünfmeterturm in einen leeren Pool zu springen, ist keine schlaue Idee.“)

Aber nichts hat mich in meinem Leben so radikal gelehrt, die Dinge auch anders (und überraschenderweise besser) zu betrachten, so viel besser mit meinen eigenen Emotionen umgehen zu können, wie meine beiden Kinder. Ich arbeite jeden Tag mit zwei besonderen Menschen zusammen, die das Anfänger-Mindset perfekt beherrschen. Einfach, weil sie es sind.

Stell dir bitte für einen kurzen Augenblick vor, dass alles, was du jemals gelernt hast, alles, mit dem du die Welt beschreiben und erklären kannst Kaffee wäre. Und der Bereich zwischen deinen Ohren ist die Tasse.

Jeder neue Tag in deinem Leben liefert so viele Meinungen und Einsichten — in sich abgeschlossene Erkenntnisse, die du mit der Zeit sammelst und die dir helfen, die Welt besser zu verstehen. (Schlaue Menschen nennen das Mentale Modelle. Ich nenne es in diesem Zusammenhang braune Brühe.) All das fließt in diese Tasse. Wenn sie voll ist, passt nichts Neues mehr rein. Und jedes Mal, wenn du eine Erklärung für irgendetwas in der Welt brauchst, kannst du nur das trinken, was da ist.

Du schlürfst immer wieder das gleiche Zeug.

Kinder und mentale Modelle

Kindern sind deine abgeschlossenen mentalen Modelle herzlich egal. Ihnen ist egal, welche tolle Analogie mit Kaffee und Tasse du dir ausgedacht hast. Zur Hölle, ihnen ist sogar das Konzept Tasse an sich egal. Warum nicht aus einer Spielzeuggießkanne trinken?

Kinder jeden Tag beim Älterwerden zu begleiten ist der thermonukleare Finalschlag gegen alles, was du dir im Laufe deines Lebens mühsam zurechtgelegt hast, um die Welt für dich ansatzweise verständlich zu machen. Und das ist etwas Gutes. Grundsätzliche Dinge zu hinterfragen, wie man mit Wut umgeht, wie man friedvoll kommuniziert (vorwiegend mit sich selbst), welche Bewertungsmodelle und Fehlinterpretationen bezüglich anderer Menschen in einem schlummern — all dies zu hinterfragen ist etwas Gutes.

Du glaubst gar nicht, wie viel Bullshit in deinem Oberstübchen herumschwirrt.

Wenn du dich allerdings dagegen wehrst, dann wirst du eine ziemlich fürchterliche Zeit haben. Und die Kinder leider auch. Ich konnte mich lange nicht für die kreativen Störungen durch meine Kinder öffnen. Und es tut mir leid für all die Frustration und Traurigkeit, die ich damit verursacht habe.

Seitdem ich das verstanden habe, versuche ich, immer mit einer leeren Tasse durchs Leben zu gehen.


Zum Mitnehmen:

#elternschaft #psychologie